Liedzeit

Wittgenstein-Zeitzeichen

Dieser Text entstand 1989 und war von mir als WDR-Zeitzeichen gedacht. Ob ich das Manuskript damals allerdings tatsächlich eingereicht habe, weiß ich nicht mehr. Wenn, dann wurde es jedenfalls nicht gesendet. Vielleicht versuche ich mein Glück 2039 noch einmal.

Inhaltlich würde ich das heute ein wenig anders darstellen. Aber ich lasse das hier so als historisches Zeugnis.



Ludwig Wittgenstein


Im März 1919 erhält der schon damals weltberühmte Philosoph Bertrand Russell einen Brief eines ehemaligen Schülers aus einem italienischem Kriegsgefangenenlager.

Lieber Russell!

Ich habe ein Buch mit dem Titel ‚Logisch-Philosophische Abhandlungen‘ geschrieben, das meine gesamte Arbeit der letzten sechs Jahre enthält. Ich glaube, ich habe unsere Probleme endgültig gelöst. Dies klingt vielleicht hochmütig, aber ich kann nicht umhin es zu glauben.

Das Manuskript ... würdest Du ohne vorangehende Erklärung nicht verstehen, da es in ziemlich kurzen Bemerkungen geschrieben ist. (Dies bedeutet natürlich, dass es keiner verstehen wird, obwohl ich glaube, dass alles kristallklar ist.) Es wirft unsere ganze Theorie der Wahrheit der Klassen, der Zahlen und den ganzen Rest um.

Das Buch, von dem die Rede ist, erschien zwei Jahre später unter dem latinisierten Titel „Tractatus-Logico-Philosophicus“. Ein Büchlein eigentlich, es umfasst nicht einmal 89 Seiten, aber ein Standardwerk der Philosophie. Sein Autor, Ludwig Wittgenstein, gilt vielen, zumindest in der angelsächsischen Welt, als der bedeutendste Philosoph des 20. Jahrhunderts.

Ludwig Wittgenstein wurde am 26. April 1889, heute vor hundert Jahren, in Wien geboren. Er war das jüngste von acht Kindern des Stahlindustriellen Karl Wittgenstein, von dem Karl Kraus einmal gesagt hatte, „Er war ein Mann aus Eisen und stahl“ – stahl mit kleinem s.

Bis zu seinem vierzehnten Lebensjahr kümmerten sich Hauslehrer um Ludwigs Erziehung, dann wurde er nach Linz in die Realschule geschickt. Einer seiner Mitschüler dort, nur wenige Tage älter als Ludwig aber zwei Klassen unter ihm war übrigens – Adolf Hitler.

1906 ging Wittgenstein an die Technische Hochschule nach Berlin, später nach Manchester, um Ingenieurwissenschaften zu studieren. Er beschäftigte sich vorwiegend mit aeronautischen Problemen, stieß auf mathematische Fragen und begann schließlich, sich für die Grundlagen der Mathematik zu interessieren.

Dieses Interesse führte ihn 1910 nach Cambridge zu Bertrand Russell. Der hatte eben zusammen mit Alfred Whitehead die ‚Principia Mathematica‘ veröffentlicht, in der sie den Versuch gemacht hatten, die Mathematik auf Logik zu begründen.

Russell erzählte später gerne, dass Wittgenstein ihn zu Beginn ihrer Bekanntschaft gefragt habe, ob er ihn für einen kompletten Idioten halte. Wenn ja, so wolle er Pilot werden, sonst Philosoph..

Russell hielt seinen jungen Schüler nicht für einen Idioten, im Gegenteil, er bezeichnete ihn als das vollendetste Beispiel eine Genies im traditionellen Sinn des Wortes, leidenschaftlich, tief, intensiv und beherrschend. Nach nur einem Jahr hatte er Wittgenstein alles über Logik beigebracht und begann, in ihm seinen Nachfolger zu sehen.

1913 zog sich Wittgenstein für ein Jahr nach Norwegen zurück, wo er in völliger Abgeschiedenheit mit der Arbeit begann, die schließlich zum Tractatus führte. In Norwegen und später den ganzen Ersten Weltkrieg hindurch, an dem er als Freiwilliger teilnahm, hielt er seine philosophischen Gedanken in einem Tagebuch fest. Der Tractatus enthält im Wesentlichen eine Auswahl dieser Tagebucheintragungen. Wittgenstein präsentierte die Ergebnisse seiner Überlegungen dabei in knapper, aphoristischer Form.

Die Welt ist alles, was der Fall ist. Die Welt ist die Gesamtheit der Tatsachen nicht der Dinge. Die Welt ist durch die Tatsachen bestimmt, und dadurch, dass es alle Tatsachen sind. Die Welt zerfällt in Tatsachen. Eines kann der Fall sein oder nicht der Fall sein und alles übrige gleich bleiben.

Wittgenstein wusste, dass diese Art von Bemerkungen schwer verständlich sind. Das lag durchaus in seiner Absicht, Russell berichtet in einem Brief über den philosophischen Stil Wittgensteins:

Ich sagte ihm, er soll das, was er für wahr halte, nicht einfach nur behaupten, sondern er solle Argumente dafür angeben. Er erwiderte, dass Argumente die Schönheit der Gedanken verderben und er sich vorkommen würde, als beschmutzte er eine Blume mit dreckigen Händen.

Und im Vorwort des Tractatus heißt es:

Dieses Buch wird vielleicht nur der verstehen, der die Gedanken, die darin ausgedrückt sind – oder doch ähnliche Gedanken schon selbst einmal gedacht hat. Es ist also kein Lehrbuch. Sein Zweck wäre erreicht, wenn es einem der es liest, Vergnügen bereitet.

Wittgenstein sah seine Aufgabe darin, das Wesen des Satzes zu erklären. Und das, so glaubte er, bedeutete gleichzeitig, das Wesen allen Seins anzugeben. Kein unbescheidener Anspruch also.

Wie ist es möglich, dass ein Satz etwas, etwas Wahres oder Falsches, über die Welt sagt? Wie können wir uns mit Sätzen verständigen?

Wittgenstein betrachtet in den Tagebüchern das Beispiel die Uhr liegt auf dem Tisch Dieser Satz ist einerseits unmittelbar verständlich, andererseits aber auch vage. Wie sieht die Uhr aus? Wie groß ist der Tisch? Wo genau liegt die Uhr? Jemand, der die Uhr vor sich auf dem Tisch liegend sieht, weiß all das. Er weiß, was er mit dem vagen Satz meint. Der Sinn des Satzes ist bestimmt. Der Sinn ist das, was der Sprecher meint. Die einzelnen Wörter jedoch sind vage. Es sei, sagt Wittgenstein, dem unbefangenen Geist klar, dass der Sinn des Satzes die Uhr liegt auf dem Tisch komplizierter ist, als der Satz selbst. Die scheinbare Einfachheit ist nur konstruiert. Hinter jedem Satz der gewöhnlichen Sprache steckt eine Funktion von wirklich einfachen Sätzen, die Wittgenstein Elementarsätze nennt. Und jeder dieser wirklich einfachen Sätze besteht aus wirklich einfachen Namen. Und jeder dieser einfachen Namen steht für einen einfachen Gegenstand. Wenn ein Satz einen bestimmten, einen festgelegten Sinn hat, so deshalb, weil wir uns unter der oberflächlichen Vagheit der Sätze auf die Eindeutigkeit de Beziehung zwischen einfachen Namen und einfachen Gegenständen berufen.

Die Forderung der einfachen Dinge, so fasst Wittgenstein diesen Gedanken zusammen, ist die Forderung nach der Bestimmtheit des Sinnes. Wenn also unsere Sätze einen festen Sinn haben, dass muss die Welt aus einfachen Gegenständen bestehen. Der Gegenstand darf keinerlei Eigenschaften haben. Alle Eigenschaften sollen sich erst aus der Kombination der einfachen Gegenstände ergeben.

Theoretisch müsste sich nun jeder sinnvolle Satz in seine Urbestandteile, die einfachen Namen zergliedern lassen. Andererseits muss jeder Satz, bei dem eine solche Analyse prinzipiell unmöglich ist, unsinnig sein. Zu dieser Kategorie von Sätzen zählen alle, die sich mit Phänomenen beschäftigen, die nicht Bestandteil der Welt sind und sich nicht naturwissenschaftlich fassen lassen. Alle Sätze über Gott zum Beispiel, über das Selbst oder auch über das Verhältnis von Sprache und Welt nennt Wittgenstein unsinnig. Die Sätze des Tractatus nimmt er dabei nicht aus. Wie alle philosophischen Sätze sind sie unsinnig.

Das heißt nicht, das die Probleme der Philosophie unwichtig sind, im Gegenteil. Sie lassen sich nur nicht in sinnvollen Sätzen behandeln. Darum lautet die oft missverstandene Forderung: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.“ Dieses Unsagbare soll sich nach Wittgenstein vielmehr zeigen. Zum Beispiel lässt sich nichts über das Verhältnis von Sprache und Welt sagen, da jeder sinnvolle Satz nach Definition einen Teil der Welt abbildet, die Abbildung selbst aber keine Abbildung ist. Dass jeder Satz abbildet, zeigt sich. Es zeigt sich jedem, der die Gedanken des Tractatus selbst schon einmal gedacht hat.

Wittgenstein glaubte alle Probleme der Philosophie im Wesentlichen gelöst zu haben. Konsequenterweise zog er sich darum aus der Philosophie zurück. Er verschenkte sein riesiges Vermögen, das ihm durch den Tod des Vaters zugefallen war und wurde Volksschullehrer in verschiedenen österreichischen Dörfern.

Erst 1929, nachdem er in einem Zwischenspiel für eine seiner Schwestern in Wien ein Haus gebaut hatte, ließ er sich dazu bewegen, nach Cambridge zurückzukehren.

Es begann eine erstaunliche zweite Karriere. Denn Wittgenstein verfiel nicht darauf, die Philosophie seiner Jugend zu vertiefen oder zu popularisieren, vielmehr glaubte er nun schwere Irrtümer in dem Tractatus zu erkennen, und er suchte und fand einen ganz neuen Zugang zu philosophischen Fragen. Er begann mit der Arbeit an einem zweiten Buch, den Philosophischen Untersuchungen. Auch für dieses zweite Werk nahm er an, dass es wohl kaum verstanden würde.

Dass es dieser Arbeit in ihrer Dürftigkeit und der Finsternis dieser Zeit beschieden sein sollte, Licht in ein oder das andere Gehirn zu werfen ist nicht unmöglich; aber freilich nicht wahrscheinlich.

Die Mischung aus Arroganz und Bescheidenheit war typisch für Wittgenstein. Sie machte einen Teil seiner Faszination aus. Wittgenstein war von dem Wert seiner Arbeit überzeugt, glaubte andererseits aber nicht an eine positive Wirkung. Er glaubte, alle philosophischen Probleme lösen zu können, war aber anderseits davon überzeugt, keine originellen Gedanken fassen zu können, wofür er erstaunlicherweise seine jüdische Herkunft verantwortlich machte. Seine Tagebücher sind voller Selbstzweifel, und Selbstanklagen. Er wollte in die Sowjetunion auswandern, zu einem anderen Zeitpunkt Medizin studieren, und er hat häufig an Selbstmord gedacht. Drei seiner Brüder hatten sich umgebracht. Professionell betriebene Philosophie war ihm ein Gräuel, und er riet seinen Schülern, einen anderen Beruf zu ergreifen. Er ging gerne ins Kino, wobei er am liebsten in der ersten Reihe saß, und zog Detektivromane Philosophischen Magazinen vor. All das erhöhte seine Beliebtheit bei Studenten nur. Und er wurde ein sehr erfolgreicher Lehrer, obwohl er selbst fürchtete, vielleicht mit einigem Recht, hauptsächlich eine neue Art philosophischen Jargons einzuführen. Wie vielen anderen großen Philosophen ging es auch Wittgenstein so, dass viele seiner Schüler die Sprache des Meisters benutzten, ohne annäherend die Tiefe seiner Gedanken zu erreichen.

Wittgenstein starb 1951, ohne sein zweites Buch vollendet zu haben. Es wurde posthum 1956 veröffentlicht. Die Philosophischen Untersuchungen stehen nicht nur inhaltlich, sondern auch formal im Gegensatz zum Tractatus. Während der Tractatus in einer technischen Sprache geschrieben ist, die ohne Logikkentnisse kaum zu bewältigen ist, scheinen in den Untersuchungen im lockeren Plauderton Belanglosigkeiten aneinandergereiht zu sein. Was müssen Spiele gemeinsam haben, um Spiel zu sein? Gibt es überhaupt etwas Gemeinsames? Was passiert, wenn jemand einen roten Apfel kaufen will? Wie würde eine Sprache aussehen, die nur aus vier Wörtern bestünde?

Russell schimpfte über die neue Philosophie Wittgensteins, er habe sich eine Methode ausgedacht, die es erlaube zu philosophieren, ohne denken zu müssen.

Das wesentlich Neue war, dass Wittgenstein die Forderung nach der Bestimmtheit des Sinnes aufgab mit allen daraus resultierenden Konsequenzen. Ohne die Forderung nach der Bestimmtheit des des Sinns entfiel die Notwendigkeit der einfachen Dinge und damit die Grundlage der ganzen Frühphilosophie.

Die Philosophischen Untersuchungen bekämpfen die Ansicht, dass der Sinn eines Satzes das ist, was der Sprecher meint. Der Sinn des Satzes „die Uhr liegt auf dem Tisch” ist keineswegs komplizierter als der Satz selbst. Und wenn der Satz vage ist, heißt das nicht, dass ein Sprecher eine genauere Vorstellung hat als ein Hörer. Wittgenstein drückt diese Auffassung so aus:

Wenn aber jemand sagt: „Wie soll ich wissen, was er meint, ich sehe ja nur seine Zeichen“, so sage ich: „Woher soll er wissen was er meint, er hat ja auch nur seine Zeichen.“

Entweder man versteht einen Satz, oder man versteht ihn nicht und zwar ohne Umweg. Es laufen keine unbewussten Prozesse ab, wo wir einen Satz in unsere private Sprache oder unsere Gedanken in öffentliche Sprache übersetzen müssten. Es gibt keine Regeln, die unser Verständnis leiten. Wir sind so „abgerichtet“, dass wir Sprache verstehen. Die Sprache ist Voraussetzung für unsere Denkfähigkeit, nicht umgekehrt.

Wittgenstein wollte, dass seine beiden Philosophien nebeneinander veröffentlicht werden, weil er glaubte, dass sie sich gegenseitig erläutern. Wittgenstein ging von der Frage nach der Bestimmtheit des Sinnes aus und beantwortete sie jeweils verschieden. Hat er darum zwei ganz verschiedene Philosophien entwickelt wie oft gesagt wird?

Auch dazu hat Wittgenstein eine Antwort:

Wenn Weiß zu Schwarz wird, sagen manche Menschen, es ist im Wesentlichen noch immer dasselbe. Und andere, wenn die Farbe um einen Grad dunkler wird, sagen „Es hat sich ganz verändert“.


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