Liedzeit

Vortrag auf dem Österreichischen Ludwig Wittgenstein Symposium 1987

Mögliche Welten und Mittleres Wissen

Leibniz unterscheidet zwei Wissensbereiche. Das Wissen vom Möglichen, das er Wissen aus einfacher Einsicht (scientia simplicis intelligentiae) nennt, bezieht sich auf komplette mögliche Welten, auf Reihen compossibler Dinge, während sich das Wissen aus Anschauung (scientia visionis) auf die ins Dasein überführte Welt „und alles Vergangenen, Gegenwärtigen und Zukünftigen in ihr“ erstreckt.[1] Wenn man es jedoch für wünschenswert hielte, so fährt Leibniz fort, könne man auch von einem mittleren Wissen (scientia media) sprechen, einem Wissen, das sich auf die zufälligen und möglichen Dinge im Ganzen bezöge. Das Wissen aus einfacher Einsicht handelte dann von den möglichen und notwendigen Wahrheiten, das Wissen aus Anschauung von den zufälligen und wirklichen, das mittlere Wissen von den zufälligen und möglichen Wahrheiten.

Mittleres Wissen erstreben wir, wenn wir nach dem Wahrheitsgehalt von Sätzen wie „Aristoteles hätte statt Philosoph Schafhirt werden können“ fragen. Nach einer heute gängigen Auffassung hat dieser Satz dadurch Bedeutung, dass es (mindestens) eine mögliche Welt gibt oder aber nicht gibt, in der Aristoteles Schafhirt war. Allerdings ergibt sich damit unmittelbar das Problem der Identifizierung über mögliche Welten hinweg. Woher wissen wir, ob jener Schafhirt unser Aristoteles ist? Zwei Lösungsmöglichkeiten bieten sich an. Entweder man geht davon aus, dass es ein unwandelbares Wesen des Aristoteles gibt, dem in verschiedenen Welten verschiedene akzidentelle Eigenschaften zukommen (Essentialismus), oder man sagt, dass Aristoteles durch die Gesamtheit seiner Eigenschaften erst eindeutig bestimmt ist, so dass die Frage der möglichen Berufswahl nur mit Blick auf dem Aristoteles ähnliche Gegenstücke geklärt werden kann (Gegenstücktheorie).

Wenn, wie der Leibnizsche Superessentialismus behauptet, alle Eigenschaften einem Gegenstand notwendig zukommen, so taucht der Modus der Kontingenz innerhalb einer Welt gar nicht auf. Jede Monade spiegelt die ganze Welt wider, und darum würde jede kleine Änderung (eine andere Berufswahl des Aristoteles) die ganze Welt verändern. Erst Welten sind nach Leibniz ontologisch unabhängig, und somit ist erst das Bestehen oder Nichtbestehen einer Welt kontingent.[2]

Der Essentialismus kommt nun zwar der Intuition entgegen, indem er ontologische Unabhängigkeit bereits auf Gegenstandsebene konstatiert, so dass die Eigenschaften der Gegenstände als kontingent betrachtet werden können, aber er muss einige identifizierende Eigenschaften als ‚essentiell‘ hervorheben, und dieser Hervorhebung haftet etwas Willkürliches an. Warum z.B. soll Mensch-sein dem Aristoteles wesentlich zukommen, nicht aber Philosoph-sein?

Alternativ dazu kann man, einem Vorschlag Quines folgend, die möglichen Welten als verschiedene Kombinationen absolut einfacher Gegenstände (etwa Raum-Zeit-Punkte) verstehen.[3]: Der einzelne Gegenstand hätte keinerlei essentielle Eigenschaft. Seine Identität ergäbe sich einzig aus seiner Relation zu anderen Gegenständen.

Eine ähnliche Auffassung hat bereits Wittgenstein vertreten. Nur werden die möglichen Welten bei ihm nicht durch Kombinationen von Gegenständen, sondern durch Kombinationen von Sachverhalten gebildet. Wittgenstein nimmt eine Zwischenposition ein. Nicht erst ob eine Welt besteht oder nicht besteht ist kontingent, aber auch nicht, ob ein Gegenstand existiert oder nicht, bzw. ob ein Gegenstand eine bestimmte Eigenschaft hat oder nicht ist kontingent. Kontingent ist das Bestehen oder Nichtbestehen eines Sachverhaltes. Sachverhalte sind der Ort der Kontingenz, denn nicht Gegenstände, sondern Sachverhalte sind ontologisch unabhängig voneinander. „Eines kann der Fall sein oder nicht der Fall sein und alles übrige gleich bleiben.“ (1.21) Welche Sachverhalte möglich sind, das heißt zu welchen Konfigurationen sich die Gegenstände zusammenschließen können, steht ein für allemal fest. Es gibt n Sachverhalte, nicht mehr und nicht weniger und damit 2n Kombinationen von Sachverhalten. (4.27)

Die Gegenstände bilden die Substanz der Welt, die feste Form, die jede noch so verschieden gedachte Welt mit der wirklichen gemeinsam haben muss. Sie sind aber letztlich nur Bedingung der Möglichkeit der Existenz von Sachverhalten. Sie erzeugen Struktur und damit ein Identitätskriterium für Sachverhalte. Ihnen selbst kommt kein ontologischer Status zu, was sich anschaulich daran zeigt, dass auch diejenige mögliche Welt, in der absolut nichts existiert (offenbar eine der 2n möglichen Kombinationen von Sachverhalten) die Gegenstände mit der wirklichen Welt gemeinsam hat. (2.022)

Umgekehrt bildet die Möglichkeit der Sachverhalte ein Identitätskriterium für Gegenstände. Die Form eines Gegenstandes ist die Möglichkeit der Struktur eines Sachverhaltes. Zwei Gegenstände sind identisch, wenn sie die gleiche Form haben, also in den gleichen Sachverhalten vorkommen können. Oder, wie Wittgenstein sagt, sie sind nur dadurch unterschieden, dass sie verschieden sind. (2.0233) Entsprechend sind zwei Sachverhalte identisch, oder, wieder mit Wittgenstein ausgedrückt, sie sind Abbildungen voneinander, wenn sie die gleiche Struktur haben, wenn also ihre Gegenstände in der gleichen Konfiguration zueinander stehen.

Um auf einen Sachverhalt Bezug zu nehmen, muss dessen Struktur simuliert werden. Wir tun das, indem wir uns Bilder der Tatsachen machen. (2.1) „Das Bild besteht darin, dass sich seine Elemente in bestimmter Art und Weise zueinander verhalten.“ (2.14) Damit aber nicht genug, denn das Bild soll ein Modell der Wirklichkeit sein, und das bedeutet, es soll richtig oder falsch abbilden. „In Bild und Abgebildetem muss etwas identisch sein, damit das eine überhaupt ein Bild des anderen sein kann.“ (2.161) Im richtigen Bild ist es die Struktur, die identisch ist, aber auch das falsche Bild muss etwas mit dem fehlerhaft Abgebildeten gemeinsam haben, was den Bezug zwischen beiden herstellt. Am falschen Bild muss zu erkennen sein, was falsch abgebildet worden ist. Zum Bilde gehört auch noch die abbildende Beziehung, die es zum Bild macht. (2.1513)

Die abbildende Beziehung ist das, was Russell einen Ordnungskorrelator nennt und wie folgt definiert: „Eine Beziehung S wird ... Ordnungskorrelator zweier Beziehungen P und Q genannt, wenn S ein-eindeutig ist, das Feld von Q als inversen Bereich besitzt und wenn P das relative Produkt von S und Q und dem Inversen von S ist.“ [4] Zwei Relationen sind strukturgleich oder, mit Russells Terminus technicus, „ähnlich“, wenn es wenigstens einen Ordnungskorrelator zwischen ihnen gibt. Dieser Ordnungskorrelator, die abbildende Beziehung, besteht aus der Zuordnung der Elemente des Bildes und der Sachen. (2.1514)

„Diese Zuordnungen sind gleichsam die Fühler der Bildelemente, mit denen das Bild die Wirklichkeit berührt.“ (2.1515)

In wahren Bildern ist immer eine Zuordnung zwischen Gegenständen und den Elementen des Bildes (bzw. den Namen) möglich. Aber das ist nur notwendige nicht hinreichende Bedingung. Die Abbildtheorie verlangt mehr. Denn Relationen können in einem unwesentlichen Sinn Abbildungen voneinander sein. So lässt sich leicht eine Zuordnung zwischen „A ist Vater von B“ und „C ist größer als D“ herstellen. Diese Relationen wären Abbildungen voneinander, ohne wahre Abbildungen zu sein, denn dazu hätten sie falsch sein können müssen. Die Abbildtheorie hat darum zwei verschiedene Fragen zu beantworten:

  • 1. Was muss der Satz mit dem Sachverhalt gemeinsam haben, um Abbildung zu sein?
  • 2. Was muss der Satz mit dem Sachverhalt gemeinsam haben, um wahre Abbildung zu sein?

Antwort: Der Satz muss die logische Form mit der Wirklichkeit gemeinsam haben, um Bild zu sein, und er muss darüber hinaus die Struktur gemeinsam haben, um wahres Bild zu sein.

Wodurch ist nun aber die Formgleichheit von Name und Gegenstand gewährleistet? Der Name ist das Urzeichen. Er kann durch Definition nicht weiter zergliedert werden,ja er kann nicht einmal durch ostensive Definition einem Gegenstand zugeordnet werden, denn der Name hat nur im Zusammenhang des Satzes Bedeutung. (3.3) Wird der Satz mit der Wirklichkeit verglichen, so ist die Formgleichheit von Name und Gegenstand bereits vorausgesetzt, denn nur wenn Namen und Gegenstände formgleich sind, lässt sich sinnvoll fragen, ob die durch sie gebildeten Konfigurationen auch strukturgleich sind. Mit anderen Worten, die Zuordnung von Namen und Gegenständen muss a priori gegeben sein. Wir haben also auf der einen, der ontologischen Seite, eine komplexe Relation, die zwischen allen möglichen Sachverhalten besteht, wobei jeder einzelne Sachverhalt wiederum eine Relation der ihn bildenden Gegenstände ist. Auf der anderen, wenn man so will, der semantischen Seite, haben wir eine komplexe Relation zwischen allen Elementarsätzen, wobei jeder Elementarsatz eine Relation der ihn bildenden Namen ist. Zwischen diesen beiden Relationen, der ontologischen und der semantischen, setzt Wittgenstein das Bestehen eines Ordnungskorrelators fest. Zu jedem Gegenstand, zu jedem Sachverhalt und allgemein zu jeder Teilmenge von Sachverhalten gibt es auf der semantischen Seite ein Pendant. Dieser Zusammenhang ist absolut notwendig. Zufällig ist, welche Teilmenge der Sachverhalte, also welche der 2n Kombinationen, wirklich ist. Jeder Elementarsatz ist notwendigerweise Abbildung eines möglichen Sachverhaltes. Ein Elementarsatz ist wahr, wenn der ihm entsprechende Sachverhalt wirklich ist. Die Isomorphie zwischen der Gesamtheit der möglichen Sachverhalte auf der einen Seite und der Elementarsätze auf der anderen Seite ist notwendige Voraussetzung dafür, dass eine zufällig wirkliche Teilmenge der Sachverhalte durch eine Teilmenge der Elementarsätze richtig oder falsch abgebildet werden kann.

Notwendige Bedingung für die Unabhängigkeit auf der einen Ebene ist die Abhängigkeit auf einer anderen. Ein Satz ist völlig unabhängig von der bestehenden Welt, aber er ist fest gebunden an die Gesamtheit aller möglichen Welten. Weil das so ist, kann ein Satz, wie Wittgenstein in den Tagebüchern formuliert, „auf eigene Faust“ einen Sachverhalt abbilden. (S.115) Darum ist alles Denkbare möglich (3.02) und alles Mögliche denkbar. Tatsächlich stellt also jeder Satz mittleres Wissen dar, sofern er eine korrekte Funktion von Elementarsätzen ist. Wittgenstein behauptet, dass wir auf der Ebene der Elementarsätze nicht gegen die logische Syntax der Sprache verstoßen können. Jede uns mögliche Verkettung von Namen ist ein Elementarsatz und damit Bild eines möglichen Sachverhaltes. Nur, bei der Synthese von Elementarsätzen zu Sätzen der gewöhnlichen Sprache unterlaufen uns Fehler, und darum entstehen manchmal unsinnige Sätze, mit denen wir keinem mittleren Wissen Ausdruck geben.

Anmerkungen


  1. Gottfried Wilhelm Leibniz, „Die Sache Gottes sichergestellt durch die Versöhnung seiner Gerechtigkeit mit seinen übrigen Vollkommenheiten und allen seinen Handlungen“, in Philosophische Schriften, hg. H. Herring (Darmstadt 1985), S. 319. ↩︎

  2. Sowohl Leibniz als auch moderne Vertreter der Gegenstücktheorie wie David Lewis definieren allerdings einen eigenen ‚innerweltlichen‘ Kontingenzbegriff. ↩︎

  3. W.V.Quine, „Propositionale Gegenstände“, in Ontologische Relativität und andere Schiften (Stuttgart 1975). ↩︎

  4. Bertrand Russell, Einführung in die mathematische Philosophie (Wiesbaden) S.67 ↩︎


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